Wieso, weshalb, warum oder die Kunst der Diagnostik

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Zungendiagnose – in der TCM unverzichtbar

Wer mehr oder weniger regelmässig seinen Hausarzt oder einen Facharzt aufsucht, wird vielleicht bereits festgestellt haben, dass dort jeder Patient ein gewisses Zeitfenster zur Verfügung hat, in der er befragt, untersucht und behandelt wird. Dieses Fenster war vielleicht mal grösser, wurde mit den Jahren und diversen Gesundheitsreformen jedoch meist immer kleiner.
Die Wirtschaftlichkeit einer Arztpraxis hängt auch vom Umsatz an Patienten ab. Es gibt gewisse Abrechnungsmöglichkeiten und gewisse Grenzen dessen was abgerechnet werden kann. Insofern gilt es die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens Arztpraxis zu optimieren. Und man hat als Arzt ja auch sowieso schon grundsätzlich ein relativ hohes Patientenaufkommen das abgearbeitet werden muss.
Kommt jemand zum ersten Mal in eine Heilpraktikerpraxis, ist er oder sie oft überrascht wie lang und gründlich die Erstanamnese von statten geht. Da es sich um eine ganzheitliche Behandlungsmethode handelt, die in Mustern und Syndromen „denkt“, ist für mich als Therapeutin für Chinesische Medizin erst einmal alles was die Gesundheit angeht von Interesse. Dazu gehören sämtliche Vorerkrankungen, alle Medikamente die mehr oder weniger regelmässig eingenommen werden, Operationen, aber auch die Bewertung normaler körperlichen Funktionen wie Stuhlgang, Menstruation, Schlafgewohnheiten, Essgewohnheiten und so weiter.
Diese Befragung wird moderiert durchgeführt, um den roten Faden nicht zu verlieren, aber trotzdem erfordert sie einen gewissen Aufwand an Zeit. Je klarer das „Muster“ des Patienten zu erkennen ist, desto effizienter kann die Behandlung auf ihn abgestimmt werden.
Dazu gehört auch was der Patient gar nicht selbst erzählt. Seine Gestik, seine Mimik, seine Stimme, sein Geruch, seine gesamte Erscheinung. Und last but not least gehört zur umfassenden Anamnese die Kunst der Zungen- und Pulsdiagnostik.
Während der Puls schnell beeinflussbar ist und sich bereits nach einer Akupunkturbehandlung verändert darstellen kann, gibt mir die Zunge hauptsächlich Aufschluss über längere und langfristige Gesundheitszustände, auch schwere Krankheitsbilder der Vergangenheit und hartnäckige Pathologien.
Hat sich in meinem Kopf das Bild des vorliegenden Musters zusammengefügt, spreche ich mit den Patienten über ihre Ernährungsgewohnheiten. Oftmals hat allein die Optimierung der täglichen Ernährung und der Lebensführung generell schon einen positiven Effekt auf den Gesundheitszustand des Patienten.
Erst wenn all das untersucht, besprochen und abgeklärt wurde, kommt es zur Behandlung. Mit Akupunktur, mit Moxa, mit Kräutern, mit Massage, je nachdem was notwendig ist.
Es mag Patienten geben die das lästig finden. Aber ich versuche dann immer ihnen zu erklären wie wichtig es ist die richtige Diagnose zu stellen. Chinesische Medizin ist kein Schamanismus bei dem ich ums Feuer tanze, ich lege niemandem die Hand auf und rufe: los, steh auf, denn nun bist Du gesund! Das wäre unseriös, aber zunächst harmlos, denn per se schadet das ja nichts.
Bei mir wird Chinesische Medizin im traditionellsten Sinn praktiziert. Selbstverständlich kenne ich mich mit den schulmedizinischen Diagnosen aus, mit denen meine Patienten zu mir kommen, doch ich würde nie rein symptomatisch oder nach Arztbefund behandeln und niemals bevor ich nicht eine Diagnose im Sinne der Chinesischen Medizin gestellt habe. Das wäre unseriös, im besten Falle wirkungslos und im schlechtesten gefährlich.
Letzte Woche bekam ich einen Anruf. Eine Frau, die unter Asthma und Allergien leidet, erzählt mir, dass sie sich bei ihrer Ärztin regelmässig präventiv gegen ihr Asthma akupunktieren lässt. Akute Beschwerden hat sie keine. Ihr Ärztin hat aber keinen Termin für sie frei und nun möchte sie einmalig zu mir kommen, damit die Regelmässigkeit nicht unterbrochen wird.
Ich kenne die Patientin nicht und erkläre ihr, dass sie gerne kommen kann, wir aber eine Anamnese machen müssen, sie soll also ein bisschen Zeit mitbringen. Das verärgert sie. Sie hat Asthma und fertig, das muss mir doch wohl reichen. Sie bietet an, mir die Punkte zu zeigen, die ihre Ärztin nadelt.
Ich versuche ihr verständlich zu machen, dass ich so nicht arbeite und auch nicht arbeiten darf. Wir beenden das Gespräch und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mich gar nicht verstanden hat.
Das Problem bei Patienten die bereits ärztlich akupunktiert wurden ist zu 90%, dass sie keinerlei Erfahrung mit der Wichtigkeit der Anamnese gesammelt haben. Es gibt Akupunkturfortbildungen für Ärzte, die es möglich machen sollen Patienten symptomatisch zu akupunktieren. Ich bin davon definitiv kein Fan und halte auch das nicht für seriös. Akupunktur ist Teil des Grossen Ganzen und nicht als Monotherapie gedacht. Da die meisten Ärzte keinerlei Ahnung von den Zusammenhängen der Chinesischen Medizin, der Syndomlehre, Mustern und Diagnostik haben bleibt das was sie machen häufig wirkungslos.
Deshalb denke ich es ist sinnvoller sich als Arzt schulmedizinisch fortzubilden und bei seinen eigenen Therapiemöglichkeiten zu bleiben, als etwas anzubieten, wovon man nichts oder zu wenig versteht. Und wer wirklich unbedingt akupunktieren will, sollte sich eine vernünftige Zusatzausbiildung gönnen. Auch das gibt es, ist aber natürlich teuer und langwierig und arbeitsintensiv.
Mein medizinisches Utopia ist sowieso eine Welt in der Schulmedizin und Chinesische Medizin Hand in Hand arbeiten und damit den Patienten wirklich die ganze Bandbreite an medizinischer Professionalität anbieten. Vor allem den Chronikern und/oder denen die „austherapiert“ sind.
Ich hab eine kleine Kartei von Ärzten, an die ich im Bedarfsfall verweise, sobald ich es als notwendig erachte die Schulmedizin einzubeziehen. Ich wünschte die Ärzte hätten so etwas auch in umgekehrter Form.
Zurück zu unserem Asthmabeispiel. Die Chinesiche Medizin hat hier für die eine schulmedizinische Diagnose „Asthma bronchiale“ zig unterschiedliche Diagnosen anzubieten. Zunächst wird unterschieden ob es sich um Atemnot mit oder ohne Begleitgeräusch handelt. Es wird ermittelt welche Funktionskreise betroffen sind. Im chronischen Verlauf meist Lunge, Milz oder Nieren. Das muss man man für die anfallsfreie Zeit im Auge behalten. Dazu kommen akute oder chronische pathogene Faktoren wie Wind, Kälte, Hitze oder Schleim. Und dieses Beispiel betrifft nur die Intrinsic-Formen des Asthmas, bei Extrinsic kommt wieder was ganz anderes ins Spiel.
Allein ob es sich um Kälte oder Hitze handelt ist immens wichtig. Hitze muss ausgeleitet werden, bei Kälte könnte Moxa zum Zuge kommen. „Asthmapunkte“ , wie die Patientin am Telefon sie nannte, gibt es in diesem Sinne nicht. Nur Punkte die das Asthma so oder so beeinflussen, aber aus welcher Richtung dieses so kommt, muss zunächst herausgefunden werden.
Und letztlich ist auch der Asthmaanfall nur ein Symptom für das Ungleichgewicht darunter, für ein pathologisches Grundmuster. Diese Wurzel gilt es zu ergründen und zu behandeln. Das macht den Erfolg der Behandlung aus und das ist das Ziel Chinesischer Medizin, nicht das reinstecken irgendwelcher Nadeln, ohne Sinn und Verstand, in der der Hoffnung, dass es vielleicht hilft, auch wenn man nicht ganz genau versteht wieso oder wieso nicht es besser oder schlechter wird.
Diagnostik im Sinne Chinesischer Medizin ist komplex, je nach Schwere der Erkrankung sogar für erfahrene Behandler. Man benötigt lange Jahre der Ausbildung, um sie zu erlernen und viel Erfahrung mit Patienten um seine Fähigkeiten in diesem Bereich stetig zu verbessern.
Scheuen Sie sich nie zu fragen welche Ausbildung ein Arzt oder ein Heilpraktiker hinsichtlich seiner angebotenen Akupunkturbehandlung genossen hat. Lassen Sie die Finger von Behandlern, die die Grundzüge der Diagnostik nicht kennen und/oder nicht anwenden. Lassen Sie sich nicht von jemandem behandeln, der Sie nie richtig befragt, Sie über die Diagnose im Unklaren lässt, Patienten im Fliessbandverfahren nadelt oder seine Sprechstundenhilfe die Nadeln ziehen lässt.
Akupunktur ist eine leicht zu lernende, aber schwer wirkungsvoll umzusetzende Behandlungsmethode. Und jede Methode ist nur so gut wie der, der sie bei Ihnen anwendet.